Anti-Wahlaufruf

Nichtwähler-Bashing ist weiterhin total angesagt in den Kreisen derer, die dazugehören wollen, zu den Kuchenessern.
„Geht wählen, Ihr Griesgrame“ raunzt es mich z.B. von der Süddeutschen Zeitung an, arrogant & dummdreist dutzend.  Gewerkschaften, Kirchen, Medien, Künstler – alle mahnen uns zur Wahl zu gehen.

Die meisten dieser Wahlaufrufe sind von poetischer Borniertheit. Sie setzen drauf, ohnehin nur von Wählern quergelesen zu werden, Überzeugungsarbeit wäre da blanke Verschwendung.

Wer Parteien wählen möchte als Ausdruck unbändiger Individualität und Cleverness, der soll das tun – Prosit! Aber wem das suspekt ist, der findet hier nochmal ein paar Argumente gegen diesen Zirkus.

* Politiker sind Loser und Dünnbrettbohrer, aufgeblähte Knallköpfe und kleinkarierte Schwätzer, Lügner und Witzbolde, beleidigte Leberwurst, Schnecke und Märchenfee. Sie sind arrogante Schnösel, überheblich und primitiv. Das sagen sie jedenfalls von sich selbst. Wer will solche Menschen freiwillig zu seinen Chefs wählen?

* Auch Journalisten berichten uns tagtäglich davon, wie unwählbar Politiker doch sind. Sie lügen, tricksen, basteln eigentlich nur an der eigenen Karriere, haben von wenig Dingen Ahnung, hecheln Meinungen und Trends hinterher (ohne sie je zu einem stimmigen Bild zusammenzufügen) – und doch soll dann ausgerechnet am Wahltag die beste aller Möglichkeiten darin bestehen, diesen Zirkus gutzuheißen.

* Wer nicht zur Wahl geht, trifft damit auch eine Entscheidung. Die Nichtwählerforschung hat längst zur Kenntis genommen, dass es nicht Faulheit und Zufriedenheit sind, die von der Urne abhalten. Es würde zur Demokratie gehören, dieses Votum genauso ernst zu nehmen wie das (nicht minder primitive) Kreuzchen-Votum.

* Man kann keine Themen wählen, bei der Europawahl auch keine Personen. Man soll einer Partei die Vollmacht geben, über alles und jedes zu entscheiden, was in den nächsten Jahren ansteht – ohne jede Rückkopplung. Das ist doch Wahnsinn.

* Wenn es letztlich doch immer um Kompromisse gehen soll, ums „Aushandeln“ – dann lassen wir das mit den Wahlen doch einfach ganz. Denn die Berufspolitiker handeln doch untereinander und mit den vielen, vielen Lobbyisten sowieso immer etwas anderes aus, als sie zuvor versprochen haben. Das nennt sich dann Realpolitik.

* Mit dem Brustton der Überzeugung tragen Politiker, Journalisten und Facebook-User vor, wie wertvoll unsere Demokratieform sei, dass es nichts besseres gebe. Und schließlich hätten dafür unsere Vorfahren und vor allem die Frauen hart und lange gekämpft. Das ist Märchenstunde! Und fragen wir doch bitte die Hausierer der Parteienherrschaft mal, warum sie andere Demokratieformen ablehnen, warum die sich nicht bewähren sollten. Erkenntnis: sie kennen gar nichts anderes (und unsere Parteiendemokratie haben die meisten nicht verstanden).

* „Jede politische Partei [ist]  in Keim und Streben totalitär“ hat die Philosophin Simone Weil zutreffend und unwiderlegt erkannt. Das könnte man ja mal wenigstens zur Kenntnis nehmen.

* All die wohlfeilen Wahlaufrufe sind Plädoyers gegen Stimmviehverhalten – man muss sie nur mal von der anderen Seite beleuchten. Nehmen wir nochmal den Text von sueddeutsche.de

1. „Manche Parteien würden sich freuen, wenn Sie nicht wählen gehen. Das hilft denen nämlich. Seien Sie Rebell! Gehen Sie wählen!“
Wenn Parteien Einfluss bekommen, gerade weil ich sie nicht wähle – dann ist wohl etwas krank im System. Das werden wir nicht dadurch heilen, dass wir die Krankheit übergehen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre.

2. „Im Europaparlament wird regelmäßig mit wechselnden Mehrheiten entscheiden. Argument geht vor Parteienfarbe. Das ist Demokratie pur.“
Zu dumm, dass wir – siehe oben – keine Argumente wählen können, sondern nur Parteifarben. Oder soll das wieder heißen, dass egal ist, WEN wir wählen, Hauptsache ist, DASS wir wählen – den Rest regeln dann die Profis?

3.  „Die Ausrede, wonach Sie nicht zur Wahl gehen wollen, weil Ihre bevorzugte Partei an der Fünf- oder Drei-Prozent-Hürde scheitern würde, gilt nicht mehr.“ (weil in Deutschland die 3%-Hürde entfallen ist)
Es sind 751 Abgeordnete ins Europäische Parlament zu wählen – bei einer halbe Milliarde EU-Bürgern! Da rechnen wir jetzt aber nochmal, ob es irgendwelche Hürden vielleicht doch noch gibt.

4. „Gehen Sie wählen. Je größer der prozentuale Anteil aller anderen Parteien an den abgegebenen Stimmen ist, desto kleiner sind auch die Chancen jener Parteien, die besser draußen bleiben sollten.“
Eine lustige Argumentation, die von allen Parteiendemokratiebefürwortern vorgebracht wird, seit Jahrzehnten: In einer guten Demokratie gibt es erwünschte und unerwünschte Meinungen. Um die unerwünschten Meinungen ungehört zu machen, müssen die anderen lauter schreien.“
An dieser Stelle geht es nicht mehr um Kompromisse, nicht mehr um Volksvertretung, nicht mehr um die hürdenlose Chance für jede Partei – an dieser Stelle geht es um Staatsräson. Auch Demokratie kann sich schließlich nicht alles erlauben!

5. „Wählen gehen ist Bürgerpflicht“
Und wenn die Mehrheit der Bürger dies anders sieht – ist es dann in einer Demokratie trotdzem noch eine Pflicht?

6. „Sie zahlen doch Steuern. Bestimmen Sie mit, was mit dem Geld geschieht! Machen Sie das sonst im Leben auch so? Geld für was geben und nicht mitreden, was damit passiert?“
Sonst im Leben zahlen wir für konkrete Dinge, die wir haben wollen. Wir kaufen normalerweise keinen bunten Geschenkkarton und lassen uns dann zuhause überraschen, was da drin ist. Wir bestimmen also nicht nur mit, ws mit unserem Geld geschieht, – wir verfügen ganz allein darüber – solange es nicht Politiker in die Finger bekommen, denn da endet unserer Entscheidungsbefugnis.

7. „Eine direkte, freie und geheime Wahl, ohne Druck, ohne Tricks und Fälschungen – das ist etwas ganz Besonderes. Ein echter Luxus. Verschenken Sie lieber Ihre Rolex als Ihre Stimme.“
Und essen Sie ihr Pausenbrot von gestern noch auf, schließlich verhungern anderswo täglich Menschen. Dieses Argument taugt nur noch für die Satire.
Wem verdanken wir eigentlich den „Luxus“ Wahl? Der heiligen Mutter Angela? Oder dem Geist der Europäischen Union?

8. „Die da oben wären nicht da oben, wenn Sie wählen gehen würden. Politik lässt sich in Demokratien sehr schnell durch Wahlen verändern. Weil fast alle Rentner zu Wahl gehen, bekommen die jetzt Rentengeschenke. Weil die Eliten fast alle zur Wahl gehen, werden deren Einkommen nicht angetastet.“
Und weil alle Demokratiereformer zur Wahl gehen, bekommen wir jetzt eine Demokratiereform? Selten wurde plumper verdummt.

9.  „Ihnen ist Europa nicht demokratisch genug? Dann gehen Sie wählen. Je mehr Menschen zur Wahl gehen, desto größer wird die Bedeutung des Parlamentes. So manche Regierungschefs glauben ja, sie könnten in Brüssel an den Bürgern vorbei entscheiden. Das überlegen die sich dreimal, wenn die Beteiligung zur Europawahl im eigenen Land sehr hoch ist. Denn dies stärkt die Legitimation der Abgeordneten ungemein.“
Halten wir fest:
– Wer nicht zur Wahl geht, schmälert die Bedeutung des Parlaments. Wann ist es dann bedeutungslos und was bedeutet dies? (Befürchtung: nichts. Alles läuft unverändert weiter. Aber schöner wär’s halt, wenn jemand mitspielt.)
– Regierungschefs, zumindest manche, verkackeiern die Bevölkerung gerne. Abgeordnete tun sowas nicht.
– Je weniger Bürger zur Europawahl gehen, um so mehr verkackeiern Regierungschefs Bürger und Abgeordnete, weils da irgendwie an Legitimation fehlt.

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