Das öffentliche (mediale) Gespräch über Wahlen ist seit Jahr und Tag völlig unrepräsentativ für die Bevölkerung. Denn öffentlich gibt es nur Bekenntnisse, ja Aufrufe und Forderungen zur Wahlteilnahme. Das Drittel der Bevölkerung, das keine Partei und keinen Politiker wählt, kommt mit seinen Überlegungen nicht vor – es ist ausschließlich Ziel von Propaganda, Häme, arroganter Selbstdarstellung. Dabei gibt es viele gute Gründe, die Zustimmung per Wahl zu verweigern. Wir listen einige auf und gehen dabei auch auf die wichtigsten immer wieder vorgetragenen Behauptungen und (rhetorischen) Fragen ein. Zunächst eine ganz knappe, thesenartige Zusammenfassung, darunter etwas ausführlicher mit vielen Verweisen auf Ausführlicheres im Netz.
Kurzfassung:
– Wahlverweigerung ist demokratisches Grundrecht
– Wer nicht wählt, wählt auch nicht AfD. Die Rechnung, jeder Nichtwähler stärke die Extreme, ist wissenschaftlich widerlegt.
– Dass die AfD nun in den Bundestag einziehen wird, entspricht genauso der Demokratie wie der mutmaßliche Wiedereinzug der FDP und die derzeitige Führungsrolle der Union. Jeder darf zwar für seine eigene Position werben, aber andere Positionen nicht zur Geltung kommen zu lassen hat nichts mit Demokratie zu tun.
– Unsere Parteienwahldemokratie hat viele, massive und bekannte Probleme, die aber nicht diskutiert, geschweige denn gelöst werden. Die starke Zustimmung für die AfD macht diese Probleme in vielfältiger Weise sichtbar.
– Die Sorge um die Bundestagspräsenz der AfD sollte eine grundlegende Verrücktheit unserer Parteienwahldemokratie zeigen: Verantwortung, ja konkrete Macht über uns alle geht an einige wenige, uns überwiegend völlig unbekannte Menschen. Die AfD etwa wird derzeit mit etwa 70 Bundestagsmandaten gesehen: Wie viele davon können Anhänger der AfD auch nur namentlich benennen, bei wie vielen glauben sie zu wissen, wie die ticken?
– Demokratie ist weit mehr als die Wahl von Parteimitgliedern in ein Parlament. Zumindest das passive Wahlrecht ist in seiner heutigen Form sogar regelrecht undemokratisch.
– Als einer der legalen Wege, für eine demokratische Reform einzutreten, bietet sich die Wahlenthaltung oder das Ungültigwählen an. Es ist weder Dummheit noch Faulheit, den derzeit Verantwortlichen die Zustimmung zu verweigern.
* Vorbemerkung: Journalismus hat versagt
Mit Bekannten, mit Fremden im Zug, mit Unbekannten im Internet kann man jeden Tag neu über das Recht auf Wahlverweigerung diskutieren, aber dabei müsste man, um bis zum Verstand vorzudringen, einige Dogmen aus der Welt schaffen, die dort aber bisher unverrückbar stehen. Die Verantwortung dafür tragen die Medien, also der Politikjournalismus, der seit Jahr und Tag auf demokratische Aufklärung verzichtet und stattdessen Propaganda für die bzw. für einige Parteien macht.
* Zum 1. Hauptvorwurf: Nichtwähler stärken die AfD oder allgemein die Extremen
Diese heute zur Allgemeinbildung zählende Behauptung ist auf den ersten Blick völlig verrückt: denn wenn mehr Menschen wählen, erhöht sich ja nur die Stimmzahl, aber nicht die Prozentzahl, die allein für die Besetzung der Parlamente relevant ist.
Auf den zweiten Blick kann man dann die nicht ganz unschlüssige Annahme erkennen, radikale Parteien würden ihre Klientel eher zur Wahl motivieren als Langweilerparteien. In diesem Fall geht man davon aus, dass sich unter den derzeitigen Wahlverweigern eben überproportional viele Menschen finden, die am ehesten mit einer der “etablierten” Mitte-Parteien sympathisieren können, dass entsprechend etwa relativ wenige AfD-Anhänger der Wahl fernbleiben. In diesem Fall stimmt die Behauptung, Nichtwähler stärkten extreme Parteien, weil sie auf ihre Stimmabgabe für eine Mitte-Partei verzichten und diese damit nicht stärken.
Mit einem dritten und vierten Blick wird es dann aber wieder komplizierter: dazu muss man sich mit der Nichtwählerforschung befassen, die an sich schon ein sehr heikles Feld ist, da alle Befragungsarten letztlich auch nur Behauptungen sind über das mögliche Wahlverhalten eines Nichtwählers. Die so erzielten Ergebnisse bieten dann allerdings keine starke Unterstützung für die beliebte These von den AfD-stärkenden Nichtwählern. Soweit Nichtwähler nämlich nur unentschlossen oder auch tatsächlich faul sind, zeigen sie sehr ähnliche Parteipräferenzen wie die wählende Bevölkerung, wobei die Sympathien sogar etwas nach rechts verschoben sind, womit die Rekrutierung der Nichtwähler dann gerade nicht dazu taugt, eine AfD zu schwächen. Wer weiterhin die Behauptung verbreiten möchte, Nichtwähler seien AfD-Förderer, lese zunächst selbst in den entsprechenden Studien nach.
Es gibt aber auch einen erheblichen Anteil, der aus politischer Überzeugung keine der (etablierten) Parteien wählen will.
Und da ist mit Wahlaufrufen einfach überhaupt nichts zu machen. Ein Wahlpflicht würde hier zu einem massiven Anstieg der Enthaltungen führen (derzeit nur möglich in Form eines “ungültigen” Stimmzettels) und wohl auch zu einer deutlichen Stimmenzunahme bei den Kleinstparteien (die sich allesamt radikaler geben als die bis 2016 im Bundestag vertretenen Parteien).
* Zum 2. Hauptvorwurf: Wer nicht wählt hat nichts zu melden
Aus der falschen Vorstellung, jeder Wahlberechtigte müsse sich für eine der kandidierenden Parteien entscheiden können, wird abgeleitet: wer das nicht tut, hat sein Recht auf demokratische Teilhabe verspielt. Wer nicht wählt, darf auch nicht meckern. Diese Behauptung wird regelmäßig mit solcher Penetranz und Selbstsicherheit vorgetragen, dass das eigentliche Problem unfreiwillig deutlich wird: es gibt nicht das geringste Interesse, Nichtwähler als politische Menschen wahrzunehmen. Hier verweigern sich wiederum vor allem die Medien, deren Job die Aufklärung nach hinreichender Recherche wäre, die aber lieber Wahlaufrufe starten und damit Nichtwähler zu Deppen und Desinteressierten erklären, die der Journalismus mit Propaganda auf den rechten Weg zurückzuführen versucht.
Es gibt aber keine Wahlpflicht, weder gesetzlich noch moralisch. Ganz im Gegenteil: wer wählt, muss voll und ganz hinter seiner Wahl stehen, alles andere ist, wenn man die Veranstaltung ernst nehmen will, verantwortungslos.
Natürlich gibt es unpolitische Wahlverweigerer – so wie es jede Menge unpolitisch, vor allem politisch ungebildete Wahlteilnehmer gibt.
Viele Nichtwähler (oder Ungültig-Wähler) geben aber sehr bewusst keiner Partei ihre Stimme, beispielsweise weil sie das gesamte System für korrupt und undemokratisch halten. Dafür gibt es tatsächlich viele Argumente, die sogar in besonderen Fällen im Feuilleton wohlwollend behandelt werden (etwa im Sommer 2016, als von David Van Reybrouck “Gegen Wahlen”erschien).
Die Argumente haben aber weiter keinerlei Einfluss auf die öffentlich-mediale Debatte. Egal ob historische, sozial-empirische oder biologische Daten – im Journalismus spielt all das keine Rolle, die Parteiendemokratie zu stützen wird von den meisten Journalisten ohne jeden Anflug von Infragestellung als elementarer Auftrag verstanden.
Dabei sind selbst nach unserem biederen (und von der herrschenden Klasse gemachten) Grundgesetz Parteien nur eine von beliebige vielen Kräften im politischen Prozess (Art. 21 GG)
Die Wahlteilnahme ist natürlich keinerlei Bedingung für politische Forderungen oder gesellschaftliche Mitwirkung. Im Gegenteil dürfen sich eher die nicht über Politik beschweren, die sie mitgewählt haben.
* Zum “AfD-Argument”: nicht zu wählen sei verantwortungslos
Dieses Mal wollen die meisten Wahlaufrufer einfach konkret die AfD im Bundestag verhindern oder wenigstens “möglichst klein halten”. Von dem oben schon ausgeführten Logikfehler abgesehen stehen dem zwei weitere Überlegungen entgegen:
a) Wer als bisheriger Nichtwähler tatsächlich mit seiner Stimme negativen Einfluss auf die AfD-Sitze im Bundestag nehmen will, muss eine der sicher in den Bundestag einziehenden Parteien wählen. Seine Auswahl reduziert sich also drastisch, eigentlich nur auf die derzeitige Regierungskoalition – also ein “weiter so”, womit wir statt der sozialistischen dann eben die bundesdeutsche Einheitspartei hätten.
Allein dieses alles andere als neue Problem hätte von der Politik längst gelöst werden müssen (z.B. durch Abschaffung der 5%-Hürde oder durch Vorwahlen oder…), aber es passiert eben nichts – und jetzt sollen die Wahlberechtigten verantwortlich sein. Das ist ein schlechter Scherz.
b) Es gibt aber auch aus demokratietheoretischer Sicht gar kein Argument dafür, dass mit irgendwelchen Kniffen und Kampagnen die AfD kleingehalten werden sollte. Wer das allgemeine Wahlrecht ernst nehmen will, darf nicht versuchen, andere am Wirksamwerden eben dieses Rechts zu hindern. Wenn in den verschiedensten Umfragen derzeit die AfD bei ca. 10 Prozent liegt, dann haben diese 10 Prozent der Wahlberechtigten bzw. Wahlteilnehmer Anspruch darauf, dass sich ihre Parteienpräferenz im nächsten Bundestag widerspiegelt.
Der “Kampf gegen die AfD” muss gerade außerhalb der Wahl stattfinden. Hier trägt vor allem natürlich die amtierende Politik Verantwortung. Die Medien, die nicht für oder gegen eine Partei kämpfen sollen, haben zunächst ihren Beitrag durch eine völlig inkompetente, aufklärungsfreie Bearbeitung der Flüchtlingsfragen geleistet.
Danach haben sie ihre AfD-Berichterstattung vor allem auf Personalquerelen, Pannen und Peinlichkeiten konzentriert. Über Positionen der AfD wurde kaum berichtet (dabei ist ihr Wahlprogramm ja wirklich chaotisch und kann sicherlich auch von vielen AfD-Wählern nicht mitgetragen werden, aber wer schaut sich schon diese Details an…).
Die mediale Propaganda gegen die AfD gründet sicherlich stark in der Fokussierung auf Parteipolitiker – statt auf potentielle Wähler. Denn denken wir uns die AfD für einen Moment weg, wird das Problem offenkundig: die ca. 5 Millionen Menschen, die nun AfD wählen werden, hätten ohne diese Partei niemanden, den sie per Wahl mit ihrer Vertretung betrauen wollen. Sie müssten sich der Wahl enthalten – so wie eben derzeit 16 Millionen Nichtwähler.
* Viele Gründe fürs Nichtwählen
Die Wahlwerber ignorieren beharrlich, dass Nichtwähler und “Ungültigwähler” gute Gründe haben können, ihre Stimme zu verweigern. Nochmal einige in Kurzform:
– Wer bei jeder der mutmaßlichen Parlamentsparteien wenigstens eine Position im Wahlprogramm sieht, der man beim besten Willen nicht zustimmen kann, muss aufs Wählen verzichten.
– Wer für eine grundlegende Demokratie-Reform ist, kann nicht den alten Trott unterstützen. Gerade weil sich die Medien allen Reformüberlegungen vollständig verweigern, steckt in ungültigen Stimmen die letzte Hoffnung auf Aufmerksamkeit. Denn steigt deren Teil signifikant (von derzeit etwa 1,5% der abgegebenen Stimmzettel), wird man das nicht als Unfähigkeit abtun können, sondern muss es als Protest lesen.
– Entgegen der Behauptung aller Politiker, sie trügen Verantwortung für ihr Handeln, gibt es tatsächlich keinerlei Haftung und keinerlei Vertragsbindung. Wahlversprechen sind nicht einklagbar, der Wähler wird zum Steigbügelhalter für das berufliche Fortkommen von Politikern.
– Wer die Parteien nicht aus Steuermitteln unterstützen will, muss sich der Stimme enthalten.
– Wer sich inhaltlich mit einer der “Kleinparteien” identifiziert, die derzeit weit von der 5%-Marke entfernt ist, weiß, dass seine Stimme nichts ausrichten würde, das Wahlsystem nimmt diese Wählerinteressen schlicht nicht zur Kenntnis. Das kann man in Demut ertragen – oder eben aus Protest ungültig wählen, weil es eine unglaubliche Bevormundung durch die etablierten Parteien ist.
– Man kann eine Partei favorisieren und zugleich entschieden gegen ein wahrscheinliches oder mögliches Bündnis sein. Wer als SPD-Anhänger z.B. keine Fortsetzung der Großen Koalition will, um wieder zu einem stärkeren SPD-Profil zu kommen, kann sinnvoll auf die Wahlteilnahme verzichten bzw. ungültig wählen, oder – Irrsinn des Systems – gerade den “Gegner” stärken (erkennbar ist die Wahlenthaltung dann das mildere, verantwortungsvollere Mittel).
– Viele Wahlfreunde haben noch nicht verstanden, dass Wahlen keineswegs als demokratisches Instrument eingeführt wurden (so wie sie übersehen, dass dafür in Deutshcland nicht lange und hart gekämpft wurde, wie das gerne mystefiziert wird). Wahlen beschränken zunächst den Kreis der Stimmberechtigten und verengen ganz stark den Kreis derer, die dann politische Entscheidungen treffen. Dabei sollte jedem die Vermutung kommen: Demokratie ist eine Herrschaftsform für einige wenige – wie jede andere Herrschaftsform auch. Schließlich haben die Machtgeilen keinerlei Interesse, ihren Einfluss mit anderen zu teilen. Das ist Biologie
Weiteres im Schnelldurchlauf:
* Ungültig zu wählen bringt nichts? Das stimmt nur so lange, wie Medien und Politik einen steigenden Anteil ungültiger Stimmen ignorieren. (By the way: bei jeder anständigen Wahl habe ich die Möglichkeit, mich zu enthalten. Es muss sich auch niemand für ein ekliges Essen entscheiden, nur weil ihm jemand die Speisekarte vor die Nase hält.)
* Jede Stimme zählt! Ja, natürlich. Aber sie macht halt nur etwa 0,0000024% aus. Auch wenn sich viele Wahlwerber gerne selbst sehr wichtig nehmen: sie sind es nicht, sorry.
* „Die Wahl ist eine Sternstunde der Demokratie und nicht die Weltmeisterschaft des Ungefähren.“ Hat Martin Schulz gesagt. Aber leider nicht konkretisiert, wie bei einer Wahl anderes als sehr Ungefähres bestimmt werden kann (bekanntlich können wir weder einen Bundeskanzler noch eine Regierung noch eine Koalition wählen, von den “Inhalten” dann mal ganz zu schweigen).
* “Das Wahlrecht ist ein Privileg…” kann nur sagen, wer sehr obertanhörig ist. Denn es braucht dann ja jemandem, der uns armen Würsten das Privileg einer Wahlberechtigung gegeben hat (Geburt, Gott, Kaiser). Dass erstmal jeder üfr sich selbst entscheidet (und verantwortlich ist) und die delegation von Verfügungsrechten an andere die explizite Zustimmung bräuchte – dieses Verständnis gibt es nicht.
* Natürlich kann man es auch anders sehen
Wir werben vor allem für die Akzeptanz der Zustimmungsverweigerung, weil das derzeitige Wahlsystem es nicht ermöglicht, den eigenen politischen Willen angemessen auszudrücken, soweit man sich nicht bedingungslos einer Partei verschreiben mag. Aber es gibt selbstverständlich auch andere Möglichkeiten, seinen Protest zu artikulieren:
– So kann man argumentieren, nur durch einen starken Anstieg der Stimmen bei “sonstigen Parteien”, also all jenen, die nicht ins Parlament kommen, kann den Druck für eine Wahlrechtsreform erhöhen. Das setzt aber natürlich voraus, dass man eine Kleinstpartei findet, der man ernsthaft zustimmen kann. Das wird schon dadurch schwierig, als über diese Bewerber nur sehr wenig bekannt ist. Selbst die pro-forma Vorstellungen dieser Parteien in den Medien beschränkt sich auf einige Stichworte aus dem Programm. Erhellende Recherche gibt es nicht.
– Eine von der öffentlichen Meinung besonders verpönte aber weit verbreitete Protestform ist die Wahl einer Partei, “die es den anderen mal zeigen soll”. Angesichts der Möglichkeiten, die das Parlament als Gesetzgeber hat, ist dies die riskanteste Form – von der wir explizit abraten müssen.
Was wäre die Alternative?
Richtig, man darf ja nur meckern, wenn man schon genau weiß, wie man es selbst besser machen würde.
Wir wollten mit der unwählbar-Kampagne aber von Anfang an nur für das Recht auf Zustimmungsverweigerung werben, um die Diskussion über Demokratiereform insgesamt in Gang zu setzen. Gute Ideen gibt es da viele.
Aber wer unbedingt eine Alternative lesen möchte, der Suche nach dem Stichwort “aleatorische Demokratie“. Einen kleinen Literaturüberblick gibt es im Blog Citizensjury.
Siehe dazu auch:
– Schluss mit dem Nichtwähler-Bashing
– Ungültig zu wählen ist demokratisch
– Aufruf zum Ungültigwählen
–
HAHA! Das ist gut:
“Dabei gibt es viele gute Grüne, die Zustimmung per Wahl zu verweigern.”
Ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch für einen sog. “Freud’schen Fehler”.
Obwohl die vielen GUTEN Grünen ja schon vor vielen Jahren die Partei verlassen haben.
Solidarische Grüße
Dicky
Punkt für Dicky. Ist korrigiert.