Dass Berufspolitiker zur Teilnahme an Wahlen aufrufen, dies gar als “Bürgerpflicht” verstanden wissen wollen, sollte selbst hartnäckige Wähler irritieren. Die daraus abgeleiteten Vorwürfe an Nichtwähler sind eine unüberbietbare Dreistigkeit. Niemand kann ignorieren, dass es tausend gute Gründe gibt, keiner Partei und keinem Berufspolitiker die Stimme zu geben. Ein paar davon:
* Politiker sind Loser und Dünnbrettbohrer, aufgeblähte Knallköpfe und kleinkarierte Schwätzer, Lügner und Witzbolde, beleidigte Leberwurst, Schnecke und Märchenfee. Sie sind arrogante Schnösel, überheblich und primitiv. Politiker können nicht lesen, haben ein Brett vorm Kopf, suhlen sich im Dreck und würden ohnehin besser im Bett bleiben. Diese Qualitätsurteile stammen – von Politikern. Herausgehört, gezählt und archiviert hat sie der “Helgoländer Vorbote” aus 185 Sitzungen des Deutschen Bundestags, einer kompletten Legislaturperiode, amtlich verzeichnet als “Zwischenrufe” in den Plenarprotokollen als 57.854 Zwischenrufe. Gemeint waren natürlich stets Politiker einer anderen Partei, aber in der Summe sind sich die Profis offenkundig sehr einig: Politiker taugen nicht viel. (Quellen: Schwäbische Zeitung; stern.de; Rheinische Post; zitiert nach DfD; weitere Zwischenrufe beim Vorboten)
Ähnlich läuft es in allen Landesparlamenten und kleineren Untergliederungen (so sprach Dauerpolitiker Kubicki gerade im Zusammenhang mit seinem Ministerpräsidenten von einer “Schande für unser Land”.)
Warum sollte man solche Loser und Dünnbrettbohrer dann als seine persönliche Vertretung wählen? Es ist doch wohl eine Frage der Intelligenz, diese wechselseitigen Vorwürfe totaler Inkompetenz ernst zu nehmen!
* Es gibt auch tausend Themen, die gegen eine Wahlteilnahme stehen. Erstaunlicherweise wird in der öffentlichen Debatte völlig ausgeblendet, für was Politiker alles verantwortlich sind: Kriegs- und Hungertote, Umweltzerstörung, tierquälerische Massentierhaltung und -schlachtung, Ressourcenverschwendung, Freiheitsstrafen fürs Schwarzfahren… von so Kleinkram wie “Rundfunkbeitrag” (GEZ), verkorkste Stadtplanung, und Junkfood im “Bordrestaurant” mal ganz zu schweigen.
Es ist unerträglich dreist, einem Menschen, dem auch nur eines dieser Themen wirklich wichtig ist bzw. nahe geht, zu sagen: “Stell dich nicht so an, uns geht’s doch gut, und als Dank dafür hast du zur Wahl zu gehen.” (Aktuell: Es werden Menschen in Gefängnisse gesteckt, dort vergewaltigt und drangsaliert, Familien gehen kaputt, Männer wie Frauen prostituieren sich, das Leben tausender ist komplett im Arsch, nur weil sich Politiker eine völlig irre Drogenprohibition ausgedacht haben. Aber zum Fall Volker Beck fällt auch den schlausten Politikjournalisten nur ein: “Verboten ist halt verboten.”)
(Ausführlich dazu: “Was nicht zur Wahl steht” oder im Braichial-Essay “Fressen, Ficken, Fernsehen“)
* Die Nichtteilnahme an einer Wahl ist nicht nur demokratisches Grundrecht, sondern die derzeit einzige Möglichkeit, zuverlässig auszudrücken, dass man unter Demokratie mehr versteht, als das “geringste Übel” zu wählen. Die Abgabe eines “ungültigen Stimmzettels” ist zwar eine begrüßenswerte, weil aktive Form der Wahlverweigerung, allerdings rechnet das Wahlsystem auch diese Stimmen zur Wahlteilnahme und damit zur Legitimation des ganzen Prozesses (in den meisten Übersichten werden die ungültigen Stimmen gar nicht ausgewiesen, gleichwohl aber der Wählerquote positiv zugerechnet). Abhilfe würden hier nur zusätzliche Wahlfelder schaffen, mit denen die Wahlberechtigten sich “enthalten” oder klar ausdrücken könnten, dass sie keine der Parteien bzw. Kandidaten wählen wollen. Dass es diese Option weiterhin nicht gibt, ist ein Skandal. Denn die bisherige Variante, den Stimmzettel “ungültig” zu machen, diskreditiert schon vom Namen her ein solches Wählervotum und wird bislang meist schlicht als Unvermögen abgetan, den amtlichen Wahlzettel vorschriftsgemäß zu gebrauchen.
* Nichtwähler begründen ihre Wahlverweigerung am häufigsten mit fehlendem “Vertrauen in Parteien und Politiker” – und sie wollen ein stärker direktdemokratisches Demokratiesystem (siehe z.B. Sachsen-Anhalt-Monitor 2015). Dem zu entgegnen: “es wird gegessen was auf den Tisch kommt” ist allein schon Grund genug für eine Zustimmungsverweigerung.
Führende Politiker wie Sigmar Gabriel (Vizekanzler, SPD) hingegen diskreditieren diese Millionen Bürger als Gegenpart zum “anständigen Deutschland” (Focus), also als unanständige Bürger.
* Bei Kommunalwahlen darf man ganz besonders den Sinn von (bundesweiten) Parteien bezweifeln: gibt es rechte und linke Kindergärten, grüne, blaue, schwarze, rote Fahrradwege…? Und Berliner Papageien braucht auf dem Dorf niemand. Lokale Politik muss anders funktionieren als über die fraktionierung der Bewohner in Arbeiter und Bürgertum, um es mit den klassischen Rollenbildern ad absurdum zu führen.
* Jede Teilnahme an der Wahl wird als demokratische Legitimation verstanden. So heißt es im “Sachsen-Anhalt-Monotor 2015” zur “Nichtwahl” von Prof. Everhard Holtmann und Tobias Jaeck:
Eine kritische Schwelle von niedriger Wahlbeteiligung, unterhalb welcher die demokratische Legitimation gleichsam verdunstet, lässt sich nicht auf den Prozentpunkt genau bestimmen. […] Aber nur dann, wenn die „Partei der Nichtwähler“ nicht die absolute Majorität der Bürgerinnen und Bürger hinter sich schart, ist sichergestellt, dass das Votum der Mehrheit der Wähler auch eine Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert.
(Wobei man auch dieser Aussage widersprechen muss, denn das “Votum der Mehrheit der Wähler” ist in dem Fall nur, dass sie wählen – nicht was, zumal die aktiven Protestwähler, die absichtlich “ungültig” wählen, hier auch noch der Zustimmung hinzugerechnet werden.)
* Parteipolitiker fordern zum Wählen auf – und versuchen sich dabei meist egalitär zu geben. Doch sie meinen natürlich stets nur: “Geben Sie mir/ uns Ihre Stimme.” Sobald eine neue Partei aufs Spielfeld tritt, wird sie als undemokratisch und damit unwählbar diskreditiert. Das geht nicht nur der AfD im Moment so (wiewohl sie doch nach Prüfung zu den Wahlen zugelassen wurde), das durfte nach der Wiedervereinigung auch die PDS erleben, das ging früher den GRÜNEN so, und kurze Zeit den Piraten und anderen Parteien, die nach medialem Aufmerksamkeitsentzug wieder in der Versenkung (bzw. Wahlsprachlich unter “Sonstige”) verschwunden sind.
Wirkliche Veränderungen wollen die herrschenden Parteipolitiker natürlich auf gar keinen Fall – sie sind zwar Dünnbrettbohrer, aber doch nicht mit dem Klammerbeutel gepudert. (Und “herrschende Politiker” müssen nicht in der Regierung sein – sie müssen nur irgendwie mitspielen dürfen.)
* Auch ohne den großen Wurf neuer direktdemokratischer Beteiligungsverfahren gäbe es viel zu reformieren. Allein für das bisherige Wahlrecht gibt es zahlreiche sehr interessante Korrekturvorschläge, die allesamt von der herrschenden Politik ignoriert werden, weil sie die Macht der Parteien beschränken könnten (siehe für eine Übersicht im Plauderton “Florian Felix Weyh: Die letzte Wahl“)
* Zu den schwerwiegenden Kritiken am derzeitigen Repräsentationsmodell gehört, dass die Wähler nur marginalen Einfluss auf die Zusammensetzung der Parlamente haben und gar keinen Einfluss auf Bildung und personelle Besetzung der Regierung wie auch tausender weiterer Ämter. Wähler können “Spitzenpolitiker” nicht verhindern, die Chance für einen Einzelkandidaten in den Bundestag zu kommen liegt hingegen – rein empirisch betrachtet – bei 0% (es hat nämlich noch nie jemand geschafft!).
* Politiker nehmen Bürger nicht ernst. Sie halten sich stets für schlauer und weitsichtiger, weshalb sie keinerlei Probleme damit haben, gegen den Willen von Bürgern zu entscheiden – ein guter Vater muss schließlich streng sein. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wer seinen Bürgern nicht zutraut, frei und selbst Freuden und Risiken des Tabakkonsums abzuwägen, wer sie stattdessen für so strunzdumm hält, dass sie Warnhinweise in Wort und Bild auf jeder einzelnen Zigarettenpackung vorfinden müssen, wiewohl verschweigend, dass dem, der Krebs- und Herztod sowie eine zünftige Leberzirrhose erfolgreich vermeidet, fast ausnahmslos jahrelanges Siechtum in Demenz droht, der kann solchen Bürgern unmöglich die Entscheidung über die politische Zukunft Deutschlands zutrauen, – sondern der braucht allenfalls blökendes Stimmvieh (aber eben nur allenfalls, denn: es geht ja auch ohne Wähler alles ganz gut, wie wir sehen).
* Zu einigen oft genannten Vorwürfen an Nichtwähler:
+ „Wer nicht zur Wahl geht, stärkt die Parteien, die er am wenigsten im Parlament haben möchte.”
Wenn dem so wäre, müsste das Wahlrecht wohl dringend grundlegend reformiert werden. Und bei jeder sonstigen Abstimmung (einschließlich aller in Parlamenten und Parteien) müsste die Enthaltung verboten werden (tatsächlich ist sie aber ein sehr beliebtes taktisches Werkzeug von Fraktionen und Berufspolitikern).
+ “Wer nicht wählt, unterstützt die Radikalen.”
Das ist auch wissenschaftlich absolut nicht gedeckt. Es wäre richtig, dass das Stimmgewicht kleiner Parteien (inkl. der “radikalen”) zunimmt, wenn sich (nur) bisherige Wähler einer “etablierten Partei” zum Wahlboykott entschließen. Aber so ist es natürlich nicht. Im Großen und Ganzen sind bei den Nichtwählern, so sie sich überhaupt für eine Partei entscheiden könnten, die Präferenzen recht ähnlich denen der Wähler. Allerdings gibt es gerade in den sog. “sozialschwachen Milieus” eine überdurchschnittliche Sympathie für “die Radikalen”. Wenn alle Nichtwähler plötzlich wählen gingen/ wählen gehen müssten, würden Kleinparteien und Extreme davon vermutlich leicht profitieren. (Allerdings wäre gerade bei einer Wahlpflicht mit vielen “Denkzettel”-Stimmen zu rechnen, neben sehr vielen “ungültigen” Stimmen natürlich.)
+ “Andere Völker wären dankbar, wenn sie unsere Wahlen hätten.” Gerne auch noch etwas dramatischer: „In anderen Ländern kämpfen und sterben Menschen für das Wahlrecht“ (Dagmar Wöhrl, CSU), gelegentlich sind auch unsere eigenen Großeltern fürs Wahlrecht gestorben.
Quatsch! Oder provokativ anders: das heutige deutsche Wahlrecht ist das Verdienst des Nationalsozialismus’. Es ist seit 1949 nur in Nuancen geändert worden, und Grundgesetz inklusive Wahlrecht gab es ohne jedes Bemühen “des Volkes” (das hatte an den Trümmern seines vorherigen Gehorsams genug zu tragen).
+ “Wer nicht zur Wahl geht, darf sich hinterher über die Politik nicht beschweren.”
Und mit der Wahlteilnahme erhält man Erlaubniszettel fürs Dauermeckern? Oder ist der Akt so befriedigend, dass man vier oder fünf Jahre sowieso alles toll findet?
Es wohl einer der schrägsten Vorwürfe überhaupt: “Weil du keinen von diesen Politikern haben wolltest darfst du dich jetzt auch nicht darüber beschweren, dass du sie trotzdem bekommen hast!”
+ Renate Künast (Grüne, bei focus.de) sagt:
„In komplizierten politischen Zeiten ist es richtig, Flagge zu zeigen: für unsere demokratischen Strukturen und welchen Personen und welcher politischen Farbe man Verantwortung übertragen möchte. Am Sonntag zur Wahlurne zu spazieren oder per Brief zu wählen – das können alle. Verschaffen Sie sich Gehör! Geben Sie die Richtung vor!“
Das Grundübel der Fahne ist deutschen Führern einfach nicht zu nehmen. Kurt Tucholsky hat dazu alles nötige in einem einzigen Satz gesagt.
Wer sich nicht auf drei Farben reduzieren lassen will, ist mit einer Partei möglicherweise nur unzureichend bedient.
Wie Wähler “die Richtung vorgeben” sollen, mag Künast bei Gelegenheit nochmal erläutern. De facto stellen sie wohl einen Blanko-Scheck aus, oder grün gesprochen: einen Freifahrtschein.
+ Sehr schön auch Kristina Schröder, ehemalige Familienministerin (CDU, ebenfalls auf focus.de), die mit der Teilnahme an der hessischen Kommunalwahl und den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz dem “Islamischen Staat” Einhalt gebieten will. (Ihr genügt allein eine hohe Wahlbeteiligung…) Wer also nicht wählen geht, unterstützt den Islamismus?
Nichtwählerbashing 2017
Norbert Lammert, scheidender und viel gelobter Bundestagspräsident: Nichtwähler haben «mindestens moralisch den Anspruch verwirkt, sich nachher zu beschweren». Also: wählen als Voraussetzung, sich politisch zu äußern. Was für eine Unverschämtheit!
Kein Bashing, nur ein Rückzug: Gabor Steingart, der sich 2009 mit einem Buch zu seiner Wahlverweigerung bekannte, meint nun, das alles habe nichts gebracht und nun müsse man wohl doch wählen:
Der Nichtwähler, so hatte ich in meinem 2009 erschienenen Buch „Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers“ geschrieben, sei nicht die Lösung, aber funktioniere als Sirene, die auf den Schaden aufmerksam mache. Er sagt uns: „Ich kündige den politischen Parteien die Gefolgschaft, weil ich von der Politik deutlich mehr erwarte, mehr Ernsthaftigkeit, mehr Anstrengung und ein Denken in Alternativen. Das Parteiensystem scheint mir nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems zu sein.“
Die Sirene wurde nicht gehört. Die Kartellbrüder ließen sich durch nichts beirren. So wurden aus Nichtwählern erst Wutbürger und schließlich Protestwähler. Da stehen sie nun mit ihren Trillerpfeifen und bevölkern den rechten Rand des politischen Marktplatzes. Nichtwählen ist damit keine Option mehr. Die etablierten Volksparteien sind noch immer Dinosaurier, aber drumherum sind Monster entstanden.
Mehr über Nichtwähler
Dieser Beitrag wurde erstmals am 3. März 2016 veröffentlicht und später aktualisiert.
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Diesem obigen Artikel kann ich aus persönlicher Parteiarbeit als ehemaliger Praktikant nur zustimmen. Mit meiner ehemaligen Praktikumsgeberin musste ich mich, trotz des vor kurzem von ihrer Partei beschlossenen Mindestlohns, über meine Vergütung feilschen. Und schlussendlich hatte sie nicht einmal den Arsch in der Hose gehabt, mich persönlich nach dem Ende meiner Zeit dort im Abgeordnetenhaus zu verabschieden! OMG :-/
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Weil wir leider ein Verhältnis Wahlrecht haben, sind Nicht Wähler und Ungültig Wähler dafür verantwortlich, daß Parteien an die Macht kommen, die von den selben Personen nie gewählt worden wären.Parteien sind nämlich dazu gezwungen, Koalitionen einzugehen.
Wer nicht wählt, wählt die Parteien, die Nicht Wähler wahrscheinlich nie gewählt hätten. Die meisten Nicht Wähler stammen eher aus dem konservativen Lager. Leider nicht aus der grünen Ecke. Um die Grünen los zu werden, müssten mehr Leute wählen gehen.